Interview von Corinne Cahen mit der Zeitschrift Forum "Ziel ist es ja, eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder seinen Platz findet"

Interview: Forum

Forum: Sind Menschen mit Behinderung Teil des luxemburgischen Stadtbildes oder findet eine gewisse "Ghettoisierung" statt?

Corinne Cahen: Ich denke nicht, dass wir es mit einer Ghettoisierung zu tun haben. Die Ateliers protégés sind nicht aus der Welt. In Düdelingen befinden sich diese beispielsweise direkt am Ortseingang. Es ist aber klar, dass es in Luxemburg schwer ist, geeignete Gelände zu finden, daher freuen wir uns über alle Plätze, die wir haben. Ich war schon in sehr vielen Ateliers protégés, hatte aber nie das Gefühl, mich in einem Ghetto zu befinden. Es stimmt, dass Busse die Menschen dorthin bringen und wieder abholen, aber ist der Geesseknäppchen denn dieser Definition zufolge auch ein Ghetto, weil Kinder dort vom Bus abgesetzt und danach wieder nachhause gefahren werden?

Forum: Wie wird die Definition von Behinderung in Luxemburg konzipiert?

Corinne Cahen: Ich habe ein Problem mit der Definition von Behinderung. Bin ich behindert, weil ich kurze Beine habe und im Supermarkt nicht an das oberste Regal komme? Im Grunde genommen müssten wir eher inklusiv denken und jeden in unsere Gesellschaft mit einbringen. Deshalb arbeiten wir im Ministerium daran, jedem den Zugang zu allem - so weit wie möglich - zu öffnen.

Sandy Zoller: Das Definitionsproblem gab es auch, als die UN-Behindertenrechtskonvention verfasst wurde. Es besteht immer das Risiko, dass jemand vergessen wird, wenn man eine allgemein gültige Definition formulieren möchte. Falls eine solche aber nun erforderlich ist, dann würden wir uns an die Richtlinien der Konvention halten. Diese besagt, dass man in der Interaktivität mit verschiedenen äußerlichen Barrieren behindert ist.

Forum: Wie durchsetzungsfähig ist das Konzept des "Design for all" in Anbetracht des "landläufigen" Bildes von Behinderung, das nicht zwingend modern ist?

Corinne Cahen: Es ist eine Mentalitätsfrage und es gibt Dinge, an die man nicht denkt, wenn man valide ist. Ich habe selbst solche Situationen erlebt, als ich zum ersten Mal Mutter wurde. Auf dem "Aldringer" war es absolut unmöglich, mit dem Kinderwagen zum Bus zu gelangen, weil auf dem Fußgängerweg nicht einmal zwei Personen nebeneinander gehen konnten. Deshalb musste man über die Busspur laufen. Da war gar nicht daran zu denken, den Weg mit einem Rollstuhl zu bestreiten.

Daher ist es für uns so wichtig, Menschen bewusst zu machen, dass es bei einer Renovierung oder einem Neubau nicht mehr kostet, bestimmte Vorkehrungen zu treffen. Spätere Eingriffe werden weitaus kostenintensiver. Die Politik muss als Erste das "Design for all" mitdenken. Ich habe aber den Eindruck, dass sich auch immer mehr Privatpersonen dafür interessieren, weil sie nun mal lange bei sich zuhause bleiben möchten.

Forum: Wie sehen Sie den Sensibilisierungsbedarf auf höherer, politischer Ebene? Worin besteht dieser?

Corinne Cahen: Wir betonen vor allem, dass eine Behinderung nicht zwingend mit einem Rollstuhl in Verbindung gebracht werden muss. Personen, die beispielsweise nicht oder nur schlecht sehen, werden häufig vergessen. Diese Art der Einschränkung erfordert aber zudem eine ganz andere Zugänglichkeit. Insbesondere ein Ort in Luxemburg ist auf der Ebene der Zugänglichkeit eine absolute Katastrophe: die Chamber. Dies betone ich seit nunmehr fast drei Jahren, ohne dass diesbezüglich etwas passiert. Wenn ein Rollstuhlfahrer ins Parlament gewählt wird, würde ich gerne sehen, wie er das Rednerpult erreicht. Ich merke es ja auch an mir selbst: Das Pult ist so hoch, dass ich nicht einmal gestikulieren kann, wenn ich spreche. Unzugänglicher als die Chamber geht eigentlich nicht.

Forum: Sie haben sehr viele Aufgaben in ihrem Ministerium. Führt das dazu, dass manche Teilbereiche unter den Tisch fallen? Wäre ein eigenes Ministerium für Handicap, wie in den 90ern, wünschenswert?

Corinne Cahen: Das würde doch auch wieder eine Ghettoisierung mit sich bringen. Und nein, es sind nicht zu viele Aufgaben.

Forum: Wenn man sich Ihre Steckenpferde in den Medien ansieht, so fallen Sie aber nicht unbedingt mit Projekten in Bezug auf das Thema Handicap auf...

Corinne Cahen: Ich halte es gerade im Behindertenbereich für falsch, die Leute permanent zu zeigen. Da hat man schon ein schlechtes Gefühl dabei, wenn man von Inklusion spricht. Diese wird anders hergestellt. Sie geschieht im Alltag und nicht dadurch, dass der Minister mit 20 Fotografen irgendwo hingeht und dann zeigt, wie die Menschen aussehen. Natürlich gehören derartige Termine auch zur Aufgabe des Ministers, aber vor allem ist dafür zu sorgen, dass die Zugänglichkeit gewährleistet ist. Es geht mir vor allem darum, dass ich zuhöre und mitbekomme, was fehlt und herausfinde, was die Politik noch tun kann. Diese kann wiederum auch nicht alle Probleme lösen. Sie kann beispielsweise einen Mentalitätswechsel antreiben, aber das muss schon von selbst in den Köpfen der Menschen ankommen.

Das Wichtigste dabei ist, permanent mit den Betroffenen in Kontakt zu sein. Ein Beispiel sind Hörgeschädigte, die mir oft sagen, was sie noch brauchen. Da sind häufig Dinge dabei, an die man nicht sofort denkt. Wir bieten jetzt die Gebärdenübersetzung permanent an, sowohl bei Budgetdebatten als beispielsweise auch bei der Rede zur Lage der Nation. Wir haben eine Gebärdendolmetscherin eingestellt, die unter anderem das Briefing des Premiers und Parlamentsdebatten übernimmt, wenn große Dossiers anstehen. Sie ist vor allem aber dafür da, Menschen zu helfen, wenn sie in eine Verwaltung gehen, um dort die Übersetzung zu machen. Das ist auch ein Stück Zugänglichkeit.

Forum: Sie haben in mindestens drei Interviews in letzter Zeit die Formulierung benutzt: "Ich möchte denen helfen, die es wirklich nötig haben." Wer hat es denn am nötigsten?

Corinne Cahen: Ich denke nicht, dass man da ein Ranking aufstellen sollte. Ich möchte betonen, dass ich mir speziell dieses Ministerium erbeten und alles andere abgelehnt habe, was mir angeboten wurde. Ich arbeite gerne mit und für Menschen.

Forum: Uns wurde jedoch zugetragen, dass Sie gerade in diesem Bereich Ihre Dossiers oftmals nicht ausreichend kennen...

Corinne Cahen: Ich kenne meine Dossiers, auch wenn ich manchmal nicht sofort jedes kleine Detail sofort präsent habe. Ich glaube, dass ich in der Vergangenheit dies auch schon öfters unter Beweis stellen konnte. Ich denke zum Beispiel an die oft schwierigen Verhandlungen zum neuen "Assurance Dépendance" -Gesetz, bei dem ich mich immer wieder unermüdlich für die spezifischen Belange von Menschen mit Behinderung eingesetzt habe. Es ist wie bei den Journalisten. Früher sagte man: Das ist eine "tête bien faite" und nicht eine "tête bien pleine". Das bedeutet soviel wie, dass man wissen muss, wo man nachfragen kann. Und so gestaltet sich das auch bei uns im Ministerium. Ich besuche auch Institutionen. Aber Sie wissen ja, wie das ist, wenn ein Minister sich ankündigt, dann findet er vor Ort häufig nicht den normalen Alltag vor. Das heißt, die Realität vor Ort sehen die Beamten oft besser als ich.

Forum: Es gibt also keine Tendenz hin zu einem einzelnen Ministerium?

Corinne Cahen: Die Frage stellt sich überhaupt nicht. Also mir wäre es noch lieber, wir brauchten gar kein Ministerium mehr, weil dann wäre die Inklusion ja gelungen. Außerdem kommen wir damit wieder zur Definition des Handicaps. Autismus ist oft ein aussagekräftiges Beispiel. Früher hieß es: Der Junge oder das Mädchen verhält sich komisch. Heute hat man Diagnosen, wie zum Beispiel Autismus. Aber handelt es sich automatisch um eine Behinderung? Ziel ist es ja, eine Gesellschaft zu schaffen, in der jeder seinen Platz findet. Dann ist das alles im Grunde egal und man muss nicht mehr mit Prozentsätzen definieren, wie sehr jemand behindert ist. Dann ist er eben so wie er ist und wird auch so akzeptiert. Mit seinen Fähigkeiten, denn jeder hat welche.

Sandy Zoller: Ein einzelnes Ministerium für Handicap ist gar nicht machbar, da es sich um ein transversales Thema handelt und die Kompetenzen der verschiedenen Ministerien festgelegt sind. Deshalb haben wir in den einzelnen Ministerien Kontaktpersonen, mit denen wir zusammenarbeiten. Diese sollen in ihrem Ministerium die jeweilige Schwerpunktthematik promoten, damit dort disability mainstreaming zustande kommt.

Forum: Wer sind diese Personen genau?

Corinne Cahen: Es handelt sich um Kontaktpersonen, die von ihrem Minister ernannt werden, mit Expertise in ihrem jeweiligen Bereich. Gerade bei Arbeit, Transport, Bildung und auch der "Sécurité sociale" sind sie für uns sehr wichtig. Sie kennen sich beispielsweise aus in allem, was mit spezialisierten Bussen zu tun hat. Wenn behinderte Menschen bei uns nachfragen, weil sie ein Problem mit einem Bus haben, dann sprechen wir mit unserer Kontaktperson, schildern das Problem und suchen gemeinsam nach einer Lösung.

Forum: Fungieren diese auch wie eine Art watchdogs?

Corinne Cahen: Wir sind im Grunde genommen die watchdogs und versuchen diese Personen mit zu sensibilisieren, damit sie zu unseren watchdogs in ihren Ministerien werden.

Sandy Zoller: Wir treffen die Kontaktpersonen und erklären, was auf internationalem Plan im Bereich des "Design for all" von uns erwartet wird. Es geht einfach darum, dass immer wenn ein Gesetz geschrieben wird, beachtet wird, ob es spezielle Implikationen für behinderte Menschen gibt. Zum Beispiel bei den Abgaben für Autos ist zu Anfang nicht bedacht worden, dass Menschen mit Rollstuhl ein größeres Auto brauchen und nun mal nicht mit einem Smart fahren können. Dies wurde dann schnell abgeändert. Das sind Griffe, die möglich werden, weil benannte Kontaktpersonen in den jeweiligen Ministerien sitzen. Es soll zukünftig automatisch an derartige Dinge gedacht werden.

Forum: Sie haben im Dezember 2013 gegenüber der woxx geäußert, dass eine der Prioritäten bei der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention das Aufstocken des Personals sei. Was hat sich diesbezüglich bisher getan?

Corinne Cahen: Wir haben in den letzten zwei Jahren Posten im Behinderten -Sektor geschaffen, u. a. um Klienten besser zu betreuen. Barrierefreiheit bedeutet auch Selbstbestimmung und Selbstbestimmung kann mit sich bringen, dass man trotzdem jemanden an der Seite hat, der einen bei bestimmten Tätigkeiten unterstützt. Personalaufstockung ist dementsprechend wichtig, denn das Recht, frei und autonom zu sein, gehört auch zur Zugänglichkeit dazu.

Forum: Wo sind diese Stellen genau geschaffen worden? Im Bereich der Beratung oder feste andere Stellen?

Corinne Cahen: Sowohl als auch.

Sandy Zoller: Um ein konkretes Beispiel zu geben: Es wurde ebenfalls in Bezug auf die Betreuung von jungen behinderten Müttern aufgestockt. Das hat es davor kaum gegeben, wird aber immer mehr zum Thema.

Forum: Kultur kommt im Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention nur viermal vor. Wird dieser Bereich unterschätzt?

Corinne Cahen: Kultur ist ein extrem guter Vektor, um Menschen zu begegnen. Das hat nicht nur mit Handicap zu tun, sondern auch mit Integration. Ich bin beispielsweise sehr gerne in den Rotondes, weil es da eine bunte Mischung gibt: "Bobos", Ausländer, Banker, Menschen mit und ohne Kinder, ... Für mich ist das der tollste Ort in Luxemburg-Stadt. Sowas schafft man nicht künstlich, sowas wächst. Es gibt jedoch auch Orte in Luxemburg-Stadt, die allein aufgrund der finanziellen Hürden schon nicht zugänglich sind.

Forum: Ist Geld oft die größte Barriere in Luxemburg?

Corinne Cahen: Auf keinen Fall. Wenn man wirklich etwas braucht, dann haben die Offices sociaux die Mittel und den Willen, jedem zu helfen. Wir haben ja doch ein recht eng gespanntes Sozialnetz. Im Bereich Handicap werden die Lücken leider größer. Ich bleibe aber nach wie vor der Meinung, dass wir hier nicht am Geld scheitern. Es gibt Leute, die gehen nicht in die Grand Rue, weil sie finden, dass dort zu viele teure Geschäfte sind. Andererseits gibt es jedoch auch dafür ein Klientel. Es muss für verschiedenste Personen das passende Angebot geben. Nicht jeder mag die Rotondes, nicht jeder mag die Groussgaass, nicht jeder mag mich und nicht jeder liest forum.

Forum: Halten Sie Menschen mit einer Behinderung für eine verkannte Zielgruppe?

Sandy Zoller: Wir haben eine Erhebung bei den Geschäften der Groussgaass gemacht. Manche städtischen Geschäftsleute sind sehr offen, andere sagen sich: Warum soll ich meinen Shop zugänglich machen? Es kommt ja ohnehin nie eine behinderte Person. Im neuen Gesetz wollen wir unseren Anwendungsbereich breiter gestalten, damit viel mehr Gebäude, zum Beispiel auch Geschäftsgebäude, von Anfang an zugänglicher sind. Durch eine höhere Zugänglichkeit kommen dann auch mehr Kunden. Dementsprechend handelt es sich definitiv um eine unterschätzte Gruppe von Konsumenten. Das kann sich wie gesagt jedoch durch den neuen Gesetzesentwurf ändern.

Forum: Welche Projekte stehen sonst noch an?

Corinne Cahen: Wir arbeiten im Moment an diesem Gesetzestext über Zugänglichkeit von Gebäuden. Dieser soll im Grunde genommen der große Wurf werden im Bereich Behinderung für diese Legislaturperiode. Wir hoffen, so schnell wie möglich!

Forum: Vielleicht Ende 2016?

Corinne Cahen: Nicht zur Abstimmung, aber wir arbeiten dran.

Forum: Danke für das Gespräch!

Das Gespräch wurde am 13.9.2016 geführt (AS/BM).


Zusammenfassung in Leichter Sprache

Dieser Text ist ein Gespräch mit Corinne Cahen und Sandy Zoller. Beide arbeiten im Familienministerium. Sie planen ein Gesetz. In Luxemburg ist es eine Regel, dass öffentliche Gebäude so gebaut sein müssen, dass jeder reinkommt. Es soll nun eine Regel geben, dass zum Beispiel auch Geschäfte zugänglich sein müssen.

Membre du gouvernement

CAHEN Corinne

Organisation

Ministère de la Famille, de l'Intégration et à la Grande Région